Verhärtet, Multiple

Wir sitzen schon eine Weile zusammen, sie und ich.
Es gab bereits einige Sorten Tee, Rotwein, kleine und größere Räusche, beredtes Schweigen und knirschenden Streit. Einigen konnten wir uns auf einen Patt: Ich kann weitermachen, aber auf Sparflamme, halb gar, und nichts wird je wieder wie früher sein. Möglich, dass ihr das genug ist, mir reicht es keinesfalls.
Der Verdacht kommt auf, dass sie sich in meiner Nähe wohlfühlt; es gibt Nahrung und Getränke und viele, viele Feuer. Nicht zuletzt mein verzweifelter Kampf gegen sie muss ihr gefallen – wer würde nicht dort bleiben, wo es am meisten Aufmerksamkeit regnet?
Ein Platz in meinem Feuilleton, Nachfragen à la „Wie geht es dir?“ – „Was willst du?“, und schier pausenloses Sich-Kümmern. Was für ein Zuhause! Weich und warm, zärtlich und irgendwie rührend, dass alles sich um sie dreht, ob ich esse, schlafe, schweige oder schreie.
Sie war schon mal da; ist eine Weile her.
Das erste Mal wollte ihr niemand einen Namen geben und ich habe sie ignoriert. Ein Ausbremsen war sie nicht gewöhnt gewesen, da hatte sie beleidigt ihre Sachen gepackt und war fast sofort wieder abgereist.
Beim zweiten Mal gab es einen großen Auflauf mit mehreren Rednern, die alle unterschiedliche Worte fanden, von denen keines stimmte.
Und dann folgte ein Fehltritt. Eine falsche Abzweigung, über die ich per Zufall gestolpert war.
Alle hatten Vertrauen in mich, meine Vernunft und vor allem meine Achtsamkeit. Keiner hätte geglaubt, dass ich diese trügerische, gefährliche Abzweigung nehmen würde. Aber ich nahm sie. Verführt von Erfolg und Oberflächlichkeit lief ich den Weg entlang, immer ein wenig zu schnell. Ich ignorierte die Realität, stolperte nur, um schneller weiterzulaufen, einem Ziel entgegen, das mir versprochen wurde, und das ich nie erreichte – denn auf halber Strecke traf ich sie.
Sie lächelte mich an, freundlich, fast ein bisschen mitleidig, und nahm mein rechtes Auge.
Seitdem habe ich mich verlaufen, weil ich den Weg nicht mehr richtig sehe, und sie geht meistens an meiner Seite, manchmal ein Lied pfeifend, aber niemals den Weg weisend zurück zu der Zeit, als ich vernünftig, achtsam und vertrauenswürdig war.

Seit einiger Zeit sitzen wir beieinander, an einem kleinen Tisch, und trinken, ineinander verhärtet, das nennt sich Sklerose. Und wir gehen nirgendwohin. Ich nicht, weil ich den Weg nicht finde, sie nicht, weil es ihr hier gefällt. Manchmal bin ich ihr auf subtilste Weise dankbar, dass sie mich vor der Enttäuschung gerettet hat, die mich zweifelsohne am Ende der Abzweigung erwartet hätte.
Manchmal hasse ich sie, wenn ich sehe, wie sie mit den 30% Prozent meines Augenlichtes, die sie mir noch nicht wiedergegeben hat, jonglieren übt und ein ganz betrübtes Gesicht macht, wenn ihr 10% runterfallen.
Ich habe kein Happy End für diese Geschichte. Genau genommen gibt es gar kein Ende.
Die Tage kommen und gehen. Ich übe mich in Achtsamkeit, aber vernünftig werde ich wohl nicht mehr, und vor allem darunter leidet meine Vertrauenswürdigkeit – sogar bei mir selbst.
Aber manchmal, wenn wir trunken sind von Sonnenuntergängen oder Rotwein, hält die Multiple meine Hand und flüstert etwas in mein Ohr. Und je länger ich zuhöre, desto klarer wird die Landkarte in meinem Kopf.
Immerhin schon mal die in meinem Kopf.

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