Im Wartezimmer des Todes

Wie geht Leben im Angesicht des Todes?
Wie lebt es sich in seinem Wartezimmer?

Wir sitzen und blättern in Zeitschriften. Das Wartezimmer erscheint wie ein riesiger Planet mit Meeren und Städten und Tieren und Menschen, es wird zu Blumen auf unseren Wegen und zu den Sternen, die wir lieben oder um die wir weinen. Verschweigend, dass wir sterben, unfähig zu fühlen, ob es naht.
Während ich im Wartezimmer sitze, tue ich so, als warte ich nicht. Der Tod praktiziert in seiner Praxis hinter verschlossener Tür und stellt alle Uhren ab, dass es kein Morgen gibt.
Der Arzt legt seine Hand auf unsere Schulter, sagt ein paar Worte, wenn ihm welche in den Sinn kommen, wenn nicht, ist es noch kürzer, noch banaler. Er steht rauchend an der Wand und spielt mit Sanduhren, wenn er Lust dazu hat. Den Wartenden erscheint es, als täte er ohnehin nur das, wozu er Lust hat, doch das stimmt so nicht. Manchmal wird er auch zu Patienten und Operationen gebeten, die er lieber nicht besucht hätte, aber er hat keine Wahl – ebenso wie wir, die wir in seinem Wartezimmer sitzen und warten, einen Deal mit ihm planen, warten. Ich werde ihn nicht fragen, ob er mich verschonen könnte. Ich erwarte auch keine Einladung. Es wird einen Tag geben, an dem meine Gardinen nicht mehr aufzuziehen sind. Und dann ist es so.
Die Zeit schlängelt sich wie eine belebte Spirale um uns herum, lädt den Arzt hinter verschlossener Tür zum Tee ein, formt ein Bild, das nur sie und er verstehen. Aus großer Entfernung schleicht der Tod sich an, legt seinen Arm um die äußeren Glieder der Kette und kommt langsam näher. Manchmal geht er ein paar Schritte weiter und nimmt sich eines der inneren Glieder; nach welchem Plan? Wir werden es nie erfahren. Doch der Schmerz, der sich aus all den Erinnerungen, Worten, Bildern und Ängsten formt, betrifft nur uns selbst.
Zu selten vermissen wir. Zu selten denken wir daran, dass wir etwas hätten teilen müssen oder dass wir hätten reden sollen, reden, bis die Sonne am Horizont blutrot strahlt und unsere Augen wie Bleitore herabsinken. Wir weinen um uns selbst. Wir trauern um diesen Kasten, der umhüllt, was wir für Seelen halten und was nicht einmal mehr Funken ist. Wir trauern um die Erde, die darauf herabstürzt wie ein Steinschlag in den Ausläufern des Himalajas.

Während ich die Zeitschrift achtlos auf meinen Knien balanciere, wird mir klar: Ich kämpfe für die falsche Sache. Der Tod ist nur eine Bahnstation, der Zug hält nur kurz an, bevor er die Strecke in den Horizont fortsetzt. Nur ein Ausstieg, nur ein kurzes Heben der Hand. In meinem Abteil bleibt etwas Tee zurück, der Duft meines Parfüms, ein langes blondes Haar, vielleicht grau, der Absatz meiner Lieblingsschuhe, eine zerlesene Ausgabe von Demian, eine viel zu oft gespielte The-Dreaming-CD, zerknülltes Papier, Tonspuren mit meiner Singstimme, ein Hauch Chips-Krümel auf den Bezügen. Vielleicht legt er eine Schatulle an, vielleicht spielt sie Trompete für mich, vielleicht lachen manche ein letztes Mal.

Noch sitze ich hier. Draußen ziehen graue Wolken vorbei, während die Zeitschrift zu Papieren geworden ist, auf die ich starre, um darin Fehler zu finden.
Finde den Fehler in dieser Alltäglichkeit, in dieser Energie, die du täglich aufbringst, in der Art, wie du dein Leben lebst. Finde den Fehler in diesem Wartezimmer, an dessen Wand Werbeplakate für Särge hängen.

Finde den Fehler: Zeitschriften, Stundenplan, Zeitschaltuhr, Wecker, Instagram, Heilsarmee, Therapie, Tagebuch, Kalorienzähler, Fahrpraxis, Kopfhörer, Geld …

Das Wartezimmer füllt sich erneut, die ersten Patienten verschwinden in den Praxisräumen und niemand sieht hin.
Verlassen wir das Wartezimmer. Gehen wir hinaus ins Leben.

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