Verglichen mit den anderen Kindern ihrer Klasse war Milly anders. Es war nichts, worauf man mit dem Finger zeigen oder für das man Worte hätte finden können – aber es war da. Es lag in ihrer Art, die anderen anzuschauen, ihrer Art, die Welt zu sehen und in ihrer Art, zu sprechen. Ja, vor allem daran.
Wenn Milly redete, erzählte sie fast ausschließlich von der Sonne. Während die anderen Kinder Klebebilder tauschten oder Gummitwist spielten, malte Milly die Sonne auf die Steinplatten im Schulhof mit grellgelber Kreide. Wenn sie in der Schule über ihre Lesefibel gebeugt versuchten, die Wörter zu entziffern, zeichnete Milly die Sonne auf ihre Schulhefte. Und auf ihren Handrücken, den die Mutter jeden Abend sauberschrubbte, damit der Vater es nicht sah und wütend wurde; denn er fürchtete Milly und ihre Seltsamkeit und wünschte sich sehnlichst einen gesunden Sohn.
Milly kannte die Sonne. Sie war ihr mehr als einmal im Traum erschienen und hatte ihr von sich erzählt. Von der Einsamkeit, der Kälte und Dunkelheit, die sie umgab und der sie mit Licht und Hitze entgegentrat in einem endlosen Kampf. Sie wusste um die Geheimnisse der Sonne, die jene nur Milly offenbarte, weil die Sonne wusste, dass Milly sie niemals verraten würde. Milly sprach von der Sonne, damit sie auch im Winter nicht vergessen wurde, damit die Menschen die Sonne mit anderen Augen sahen, damit niemand sie jemals übersah.
Und die Sonne war dankbar. So dankbar, dass sie Milly einen ihrer Strahlen schenkte, in einem Traum. Am Tage war der Strahl nicht zu sehen, doch er erhellte Millys Gedanken und leuchtete jede Nacht in ihren Träumen.
Milly und die Sonne waren Freundinnen, und das machte die eine wie die andere unendlich stolz.
Eines Nachts jedoch wurde Milly in ihrem Traum Zeugin, wie die Sonne entführt wurde. Milly war hilflos, ihre Beine waren wie gelähmt, als sie zusah, wie eine große, graue Wolke ihre klammen Finger nach der Sonne ausstreckte. Zischend verglühte die Sonne die Feuchtigkeit der Wolke, doch je mehr Wolkenfinger sich um die Sonne legten, desto stärker musste diese gegen die Nässe kämpfen. Weiße Dunstschwaden umringten den goldenen Feuerball.
Die Sonne ächzte, als sie versuchte, sich gegen die Wolke zu wehren, doch diese zog weitere Wolken an sich und vereinte sich mit ihnen, sodass sie wuchs, bis sie zu einer riesigen grauen Wand wurde. Da ahnte Milly, dass die Wolke gewinnen würde. Die Sonne verlosch zunehmend in den feuchten Wolkenhänden, Milly spürte, dass ihre Freundin sich immer weniger wehrte. Und plötzlich war sie fort. Milly wartete. Die gigantische Wolkenwand verschwand und Milly konnte sich wieder bewegen, doch von der Sonne war nichts mehr zu sehen.
Milly weinte still. Sie setzte sich auf den Boden, direkt unter dem Stück Himmel, an dem die Sonne zuletzt geschienen hatte, und wusste, sie würde dort warten, bis ihre Freundin zurückgekehrt wäre.
Als die Kinder in der Schule am nächsten Morgen erfuhren, dass Milly nicht zum Unterricht erschienen war, zeigten sie keine Überraschung.
Sie sahen zu der gelben Kreidezeichnung auf dem Schulhof hinüber und lächelten still.
