Die Regentropfen am Fenster des Flugzeugs sehen beim Starten aus wie kleine Spermien, die auf dem schnellsten Weg zum Ziel sind.
Mayas Gesicht presst sich aus Vermeidung des Klischees nicht an die Scheibe, ihre Augen suchen den Rücken des Sitzes vor ihr ab, obwohl sie ihn auswendig kennen: Tageszeitung und So-retten-Sie-sich-Comic hinter straff gespanntem Gummigitter, Spucktütenecke links, Konsumartikelkatalogecke links und ein verwirrendes Muster der Polsterung. Wie fremdartige Insekten liegen ihre Hände in regungsloser Starre auf ihrem Schoß. Schemenhaft regt sich ein Mitfliegender an ihrer Seite, die Stewardess spricht schnell, routiniert und knisternd durch ein Sprechgerät und nichts ergibt mehr Sinn. Nicht die Erinnerungen, die sich zahlreich in ihrem Gedächtnis aufreihen als schwarze Schützen und silberne Ritter, nicht die Tage, lange vor Gestern, vor den letzten Wochen. Maya schließt die Augen, um nicht in den Gesichtern der Menschen im So-retten-Sie-sich-Comic zu lesen, was sie selber nicht zu denken wagt, und seufzt unhörbar.
Die attraktive Stewardess macht mit einem unwiderstehlichen Lächeln deutlich, dass ein Absturz über Wasser nur minimale Gefahr bedeutet, und die Sonne sticht dazu durch das Flugzeugfenster. Escape path marking lights. Ja, die hätte sie schon eher brauchen können, aber stark beleuchtet, damit ihr verklärt-verschwommener Blick sie auch in jedem Fall bemerkt hätte. Ob der Rest der Insassen dieser Maschine auch manchmal so denkt, fragt sich Maya, ob sie auch vergessen, sich zu erinnern, und ob Poesie überhaupt noch eine Rolle spielt, jetzt, wo alle in jeder Lebenslage durchgestylt und instagrambereit sind.
Der Schemen an ihrer Seite blickt konzentriert in seine Zeitschrift und kaut konzentrierter auf seinem Kaugummi; wie viele Neurosen auf den Straßen unterwegs sind, wie oft wohl schon der Knoten geplatzt oder die Nacht zu lang geworden ist – wie sehr sie sich auch bemüht, die Gedanken warten im Wartesaal des Morgen und hoffen auf eine neue Chance. Maya verweigert sich ein bisschen, blickt ein bisschen auf die staubige Rollbahn, ignoriert ein bisschen die Stewardess, den Schemen und all den Atem um sich herum – das Leben auf engem Raum.
Der Enge war sie gerade noch entkommen. Die Enge hatte sie vor Stunden, die mittlerweile kein Tag mehr waren, abgeschüttelt. Doch geblieben war die Leere, nur kurz verschwunden zwischen Schalenkoffer, Beautybag und Schade. Jetzt würde melancholische Musik passen, aber nur, wenn sie sich hätte zurücksehnen wollen. Aber ihre Sehnsucht geht ab sofort nach vorne. Hofft sie. Und was genau im Vorne liegt, kann keine Wahrsagerin mit Sicherheit sagen, darum bleiben ihre Visionen kryptisch und ein buntes Mosaik, zusammengesetzt aus den Stücken des Vielleichts. Maya weiß das mittlerweile, deshalb verwirrt es sie nicht mehr. Aber es hinterlässt einen faden Geschmack, den das Borddinner schon vertreiben wird. Nicht vegetarisch. Substantiell.
Maya lauert auf ein Lächeln, als die Stewardess ihr Getränke anbietet. Wenn man länger nichts angeboten bekommen hat, außer abgestandenen Blicken und abgekühlten Worten, ist jedes Lächeln köstlich, so abgeschmackt es auch sein mag. Nur Tomatensaft klingt für schlecht geklebte Herzen viel zu rot. Maya bestellt Wasser auf die Gefahr hin, dass der Schemen sie für eine unerfahrene Fliegerin hält, und während hinter der Klappe des Getränkewagens Eiswürfel klappern, richtet sie den Strahl der Klimaanlage auf ihr Gesicht. So kalt hat es sich angefühlt in der letzten Zeit, denkt sie – und hört sofort wieder mit dem Denken auf. Das, was vor ihr liegt, bedenkt sich nicht so leicht. Siehe die Wahrsagerin. Und außerdem will sie jetzt die Wolken sehen und die leisen blauen Inseln, die von Fernweh erzählen, von Liebe, von einem Traum der Nähe und Zweisamkeit. Und vom Fallen. Immerhin schlingert es sich angenehm in großen Passagiermaschinen, weil man sich dort nie wirklich allein fühlen kann, und wenn man sich zurücklehnt, tauchen schöne Erinnerungen auf von Spielplätzen, Wippen und Kirmesbesuchen. Geschaukelt war sie auch, ja, wie ein 5-Mann-Ruderboot ohne Tiefgang, und die scharfen Klippen waren lachende Warnungen gewesen, von der Gischt geschluckt.
Mayas Blick streift das Knie des Schemens, der Wagen rollt über den Gang, die Stewardess lacht über einen missglückten Mitflieger-Witz, und jetzt schmeckt Maya doch so etwas wie Einsamkeit und Verlassen worden sein aus ihrem stillen Wasser heraus. Sie lässt den Kopf nach vorne hängen, bewegt die Füße ein wenig und schließt erneut die Augen.
Im Endanflug auf München sieht man ein Feld, in das ein spiritueller Bauer eine Lotusblüte gemäht hat. Vor den Toren der Stadt steht ein Bus und erwartet etwas. Maya glaubt nicht an Vorsehung, nicht, nachdem sie nichts vorhergesehen hat, als sie sich vor Monaten in das Flugzeug gesetzt und von einem Neuanfang geträumt hatte, der letztlich nur ein Ende war. Maya richtet ihren Blick in Richtung Stadt und versucht sich weiter in der neuen Disziplin des Das-war-es-jetzt; nicht olympisch zwar, aber immerhin sportlich, wenigstens das. Hinter ihr liegen die Entfremdung, das Aufgeben und Schmerz, doch vor ihr kein Zuhause. Maya wuchtet ihren Koffer mit der Kraft der emanzipierten Frau in das Gepäcknetz. Und ein wenig war es diese Emanzipation gewesen, die ihr plötzlich mehr Glück versprochen hatte als jeder braungebrannte Surfer. Zurück hatte sie gewollt, auf einmal – nein, das stimmte nicht: Schon länger hatte da doch dieses Gefühl genagt. Dass etwas nicht stimmen konnte, auch wenn es noch keinen Namen hatte, dass er und sein Leben nicht stimmen konnte, dass sie nicht darin stimmte.
Es war interessant gewesen, wie schnell sie alles hatte einpacken können. All das Leben, das sie aus München auf die andere Seite der Erde transportiert hatte, und das trotzdem kein Zuhause, kein Angekommen schaffen konnte. Wie schnell sie sich für den Rückweg hatte entscheiden können. Die Hinreise war schwerer gewesen. Ein ermüdender Marathon aus langen Debatten, viel Wein, ein paar Tränen links und rechts. Dann das Gefühl der Wärme. Der Entschluss, sich auf ein paar Tage, Monate, Jahre bei Nähe und Geborgenheit einzuladen. Die Nähe hatte doch gesagt, sie würde sie erwarten. Und erwartet hatte sie Maya. Mit halb geöffneten Armen zwar, aber manchmal ist die Hälfte eben alles, was man kriegen kann. Normal war es nie gewesen, flüstert ihr Koffer im Gepäcknetz, als der Bus sich durch die Straßen schlängelt, aber auch nie wirklich warm. Maya friert und ist nicht sicher, ob das am Münchner Klima liegt. Gefroren hast du, raunt der Koffer, wie du da lagst, der warme Sand auf deiner Haut und sein Blick verloren in den Wellen und einer Zukunft, die ihr nicht teiltet. Und jedes leise Wort war vom Meer geschluckt worden. Das Meer … Das würde sie vermissen, die perlenden Wellen, die manches Mal ihr Gehör verstopft hatten. Zu ihrem Besten. Das Erkennen schaut vorbei und gibt ein Referat zum Besten. Sie hätte längst … wie hatte ihre Schwester noch gesagt? „Du hättest längst zuhören sollen!“
Sie hatte zugehört. Aber dem Falschen.
Ihre Endstation wartet hinter der Kurve. Seltsam, wie schnell alles wieder „wie früher“ ist. Die Straßen, die Gässchen, die verschlafenen Leute. Sogar der Radiosender, der den Busfahrer unterhalten soll, nervt sie mit den Liedern ihrer Teenie-Zeit. Eine merkwürdige Schwäche überkommt sie, als sie ihren Schalenkoffer wieder aus dem Gepäcknetz hebt. Sie hatte an keine Nachricht gedacht. In ihrer Wohnung dreht jemand anders an der Nachtspeicherheizung, und ihre Freunde … ein Reigen entfernter Gesichter, auf der Reise zu sich selbst, die durch die ganze Welt führt. Maya steht vor einer alten Haustür. Nicht alt im eigentlichen Sinne – alt für sie, in einer Vergangenheit, die noch weiter entfernt liegt als die Puzzleteile, die sie in den letzten 24 Stunden vom Herzen in den Kopf zurück ins Herz geschoben hat.
Schwer erscheint der Koffer jetzt. Schwer die Worte, die es noch zu sprechen gilt.
Jedes Ende ist ein Anfang. Vielleicht ist das der einzige vernünftige Gedanke, den sie gerade denken kann …