Der Kopf des Drachen

Auf dem Feld hinter dem Haus sind mehrere Kinder versammelt. Allesamt in bunten Farben gekleidet und laut. Viel zu laut, wie der Nachbar findet, und die Mütter nicht zu sehen, weit und breit. Der Nachbar rechnet. Er ist ein Rechengenie, sagt er selbst, er rechnet den ganzen Tag. Vermehrung und Verminderung seines Besitzes, Geschenke für die Frau, Zahlungen seiner Pächter. Die Kinder laufen jetzt im Kreis und singen ein Lied, dessen Text nicht zu verstehen ist. Der Nachbar kennt es, aber es ist weit entfernt, weil er rechnen muss, und dann hat nichts anderes in seinem Kopf Platz.
Der Kopf, so erklärt er seiner Frau, sei ein hochmodernes Instrument. Immer auf dem neuesten Stand, hochentwickelt, seiner Zeit voraus, die Perfektion stets zum Ziel – und er wird sie erreichen versteht sich. Man sagt, erklärt er, dass der Mensch nur cirka 10 Prozent seiner Hirnzellen nutze. Doch seine Hirnzellen seien alle ausnahmslos zu etwas gut – wobei sie vor allem auf das schnelle Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren komplizierter Zahlenkonstellationen spezialisiert wären. Es wären nur kleine Gehirnwindungen, die sich hinsichtlich ihrer Komplexität jedoch kaum von empfindlichen Super-Computern unterschieden. Aber das Gehirn arbeite effizienter, denn man könne es jederzeit und immerzu unter seine Kontrolle bringen, und diese Kontrolle, sagt der Nachbar zu seiner Frau, gäbe ihm Macht über sein Denken, sein Fühlen und damit sein Handeln – und ist das nicht mehr, als man von jedem Computer verlangen könne?
Heute ist es allerdings verletzlich und angreifbar, vor allem bei dem steten Lärmpegel, der sich, so scheint’s, dem Hause nähert.
Der Nachbar sei sehr verärgert, sagt er seiner Frau, früher hätte es das nicht gegeben, da hätten die Eltern den Kindern verboten, laut zu sein. Heute, wo sie alle antiautoritär erzogen würden, sei es ja schon gang und gebe, dass die Kinder mehr Respekt erwarteten, als sie ihren erwachsenen Vorbildern entgegenbringen wollten. Und: Oh ja, das wäre er, ein gutes Vorbild, ein Rechengenie, wie man weiß, und jeder im Dorf zolle ihm den verdienten Respekt und lasse ihn in Ruhe.
Sein Kopf wackelt jetzt ein bisschen, weil das Geschrei draußen zu einer Flut von Getöse anschwillt, die ihn fast ertränkt. Er fängt sich wieder und wiegt sich ein bisschen hin und her; dann beugt er sich vor und betrachtet liebevoll die Zahlen, die vor ihm ein weißes Blatt Papier füllen. Rund und kantig, weich und voller Poesie – Noten sind Zahlen sind Rechnungen sind klangvolle Ergebnisse. Sein Stuhl schaukelt einen Moment, als Wind aufkommt. Aber er schützt seine Gedanken durch seinen Schädel, der sich um sein Gehirn legt wie eine Nussschale. Ehrfürchtig fügt er eine sieben in seine Tabelle ein – Anhäufungen und Schenkungen. Einnahmen und Investitionen. Vermehren des Schatzes.

Die bunten Kinder auf dem Feld sagen Abzählreime auf: Wer ist der Held im Drachenloch – Wer wird verbrannt und fängt ihn doch – Wer siegt, bringt die Prinzessin heim – Wer stirbt, der wird zu Gänseklein.

Sie tanzen dazu im Kreis und versuchen, einander zu übertönen. Sie ernennen einen Sieger und heben ihn hoch, der Verlierer fällt um und bleibt zu lange liegen.
Der Nachbar glaubt nicht, dass sie wissen, wie Tote aussehen, er sagt zu seiner Frau, diese Kinder spielten mit dem Schicksal, solle man den Tod heraufbeschwören? Er kenne den Tod – hässlich sei er und nicht heldenhaft, oh nein, er kenne niemanden, der je heldenhaft gestorben wäre. Doch der Tote nähme dies Geheimnis mit ins Grab, wie die Angst und den Terror, die er erblickt, wenn er den Tod kommen sieht. Denn der Tod, sagt der Nachbar leise, sähe furchtbar aus, schlimmer, als seine Frau es sich vorstellen könne und beinah lächelt er, ein wenig nur.

Die Kinder kennen keine Angst, sie glauben nicht an die Geschichten der Alten, die ihnen Furcht einflössen sollen.
„Wagt euch nicht zu nah heran“, sagen sie, „Flieht, wenn ihr ihn kommen seht“, flüstern sie unheilvoll und verdrehen die Augen und die Kinder lachen.
Wovor sollten sie sich denn fürchten, keins von ihnen hatte ihn je gesehen. Eine Geschichte, lachen sie, eine schöne, schaurige Geschichte!

Die Frau des Nachbarn summt ein Lied vor sich hin. Ein altes Lied, das ihre Großmutter ihr zum Einschlafen vorsang. Es erzählt die Geschichte des tapferen Prinzen, der auszog, den Drachen zu erlegen. Und nie zurückkehrte. Der Nachbar duldet keinen Gesang. Er beugt sich  vor und blinzelt seine Frau aus engen Augen an. Wie gut, dass wir uns verstehen, sagt er, als sie verstummt.
Er muss jetzt denken, schon zu lange hat er sich ablenken lassen, von den Kindern, dem Gesang seiner Frau, den Erklärungen, die er ihr stets geben muss, denn sie weiß nicht viel, zum Wissen wurde sie nicht erzogen. Etwas Spitzes streicht über die kleine Truhe in der Ecke des Raumes. Seine Frau sieht es und fühlt, wie sich ihre Haare aufstellen. Ein kleines Haus an der Wiese, auf der Kinder stehen und sich alte Geschichten erzählen, Abzählreime singen, mit Worten, die sie nicht begreifen können, weil sie nichts begriffen, flüstert der Nachbar, sie hätten noch nie etwas begriffen. Der Schädel schützt den Kopfe – An dessen Schale klopfe – Verwirre ihn mit Licht – Bis ihm das Auge bricht –Den Dolche in den Rachen – Besiegst du jeden Drachen.

Die Kinder haben sich vor dem Zaun des Hauses versammelt und schauen in der Dämmerung zu den unteren Fenstern hin. Sie sind alle mit Gardinen verhängt, in der untergehenden Sonne spiegeln sich die Kinder selbst. Das Haus scheint mit dem Wind zu wehen, aber es steht immer auf derselben Stelle, keine Regung in seinem Inneren wird sichtbar, selbst jetzt, da sie in der Nähe sind, wo sie eigentlich gehofft hatten, ihn zu sehen, den Nachbarn, aus den Geschichten der Großeltern, die sie flüsternd auswendig aufsagen, solange sie vor seinem Haus stehen. Der Wind wird stärker, verzweifelt wühlt er eine Warnung in die Haare der Kinder, die nun mit offenen Mündern das Haus anstarren, gebannt von dem, was sie sehen und nicht glauben können.

Der Nachbar fährt sich mit gespaltener Zunge über den Mund und legt den Bleistift nieder, den er immer hält, seine Frau weiß es, sie verlässt sich darauf, dass er stets den Stift umklammert, die Jahre lehren eine viel, sogar wie man dafür sorgt, dass der Gatte immer etwas in den Händen hält.

Langsam steht er auf und nähert sich der Hintertür zum Garten.

Es sei an der Zeit, murmelt er in die Richtung seiner Frau, die sich nicht rührt, weil sie es nicht kann. Lektionen müsse erteilen, wer das Geheimnis kenne, sagt der Nachbar und dreht sich noch einmal um.
„Nicht wahr, Prinzessin?“, sagt er und verzieht das schuppige Gesicht. Nicht wahr?

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