Der verliebte Wind.
Unter den Wetterlagen ist der Wind der größte Gott.
Darum darf er immer wehen, egal, ob Sommer oder Winter, warm oder kalt. Viele der anderen Wetterlagen mögen ihn nicht – was sie natürlich niemals zugeben würden.
Der Regen zum Beispiel kann den Wind nicht gut leiden: Ständig bläst dieser ihm dazwischen, verwirbelt konzeptlos seine Tropfen, und manchmal verweht er sie derart, dass niemand mehr merkt, dass es regnet.
Den anderen Wetterlagen geht es ähnlich. Zwar respektieren sie den Wind – schließlich ist er ihr höchster Gott! –, aber sein Auftritt missfällt ihnen zumeist.
Der Wind interessiert sich wenig für derlei Befindlichkeiten. Überhaupt sind ihm Gefühle vollkommen egal. Natürlich gibt es gute Tage, an denen er warm und wonnig bläst, ein Blatt schaukeln oder eine Haarsträhne fliegen lässt, und schlechte Tage, an denen er wütend das Laub vor sich hertreibt und Fensterläden zuschlägt, dass sie zerspringen. Aber Gefühle sind eines Gottes unwürdig. Glaubte er. Bis zu Lilou.
Lilou war das schönste Mädchen in ihrer Straße, und in ihrer Schule waren mehr Jungs in sie verliebt, als Audrey Hepburn Fans hatte. Lilou war ein bisschen trotzig und ein bisschen eingebildet, aber eigentlich hatte sie ein gutes Herz. Wenn ein Vogel aus dem Nest fiel, hob sie ihn auf und pflegte ihn, bis er allein fortfliegen konnte, und wenn ein Mauerblümchen aus ihrer Klasse gehänselt wurde, schenkte Lilou ihr zum Trost heimlich Schokolade.
Als der Wind über Lilous Mütze stolperte, die er gerade selber noch über den Gehsteig gepustet hatte, war er zunächst wütend. Doch dann sah er sie. Wie sie die Straße entlangschlenderte, ihr Haar, das in Wellen über ihre Schultern fiel, ihr zarter Arm, der die Schultasche mit Leichtigkeit trug.
Lilou. Ein Name wie ein zarter Sonnenstrahl, der die Wogen des Meeres vergoldete.
Lilou. Ein Name, den der Wind küsste, als küsse er ihr goldenes Haar.
Lilou. Deren Rehaugen in den Himmel blickten, wenn sie an der Ampel auf Grün wartete und nach Wolkenbildern suchte. Lilou.
Der Wind war besessen von ihr.
Morgens wehte er den Unrat von dem Gehweg, auf dem sie zur Schule lief. In der Mittagspause wehte er ihr die Haare aus dem Gesicht, wenn sie unter einem Baum ihr Essen zu sich nahm. Abends wehte er um ihr Fenster und sang Liebeslieder oder erzählte Geschichten, die er auf seinen weiten Reisen gesammelt hatte.
Doch Lilou beachtete den Wind nicht.
Er zauste ihr zärtlich das Haar, strich sanft über ihre Wangen und küsste ihren kirschroten Mund.
Doch Lilou beachtete den Wind nicht.
Er säuselte an den Fenstern ihres Klassenraumes, sang in den Bäumen ihres Gartens und gurrte in den Ritzen ihrer Wand.
Doch Lilou beachtete den Wind nicht.
Er rüttelte an ihrer Scheibe, zog an ihrem Rock und blies ihr mitten ins Gesicht.
Doch Lilou beachtete den Wind nicht.
Und da wurde der Wind wütend.
Am nächsten Morgen blies er Lilou so heftig ins Gesicht, dass ihr die Tränen aus den Augen rannen. Sie fluchte leise, wischte sich mit einem Taschentuch die Augen und ging mit gesenktem Haupt weiter.
Der Wind lachte höhnisch, riss eine MacDonalds-Verpackung aus dem Papierkorb und warf sie Lilou direkt vor die Füße. Fast wäre sie gestürzt, und der Wind musste einen Augenblick überlegen, ob er sie stützen sollte. Doch sie fiel nicht. Sie streckte die Schultern durch und schritt würdevoll weiter auf ihrem Weg. Sie würde sich sicher keine Blöße geben.
Als Lilou in ihrem sicheren Klassenzimmer angekommen war, zog der Wind sich zurück und dachte nach.
Er hatte alles für Lilou getan, sie Stunde um Stunde umschmeichelt – und doch war ihm ihr Herz verschlossen geblieben. Warum nur?
Der Wind überlegte. Er grübelte. Er grämte sich. Und traf eine Entscheidung.
Der Regen blickte den Wind mürrisch an. Aus bereits bekannten Gründen waren sie keine besonders guten Freunde, und alle Wetterlagen betrachteten es stets mit Argwohn, wenn ihr höchster Vorgesetzter sich selbst auf ein Schwätzchen zu ihnen einlud – denn das bedeutete oft genug Ärger.
Nachdem der Wind dem Regen detailreich und wortgewaltig die Problematik seiner unerwiderten Liebe geschildert hatte, zuckte Zweiterer mit den Schulten und sagte, ein wenig gelangweilt (das blieb sogar dem Wind nicht verborgen), dass er sich seit jeher aus Liebeleien heraushielt; zu kompliziert, zu nervenaufreibend und damit zu schmerzhaft, als dass es sich lohne, seine Energien zu investieren. Er sei dazu übergegangen, sich auf die Optimierung seiner Regen-Variationen zu fokussieren, und begann sogleich, dem Wind seine Litanei vorzubeten: Sprühregen und Nieselregen seien ja bekannt, aber was war mit Tröpfelregen und seiner neuesten Erfindung: On-und-off-Regen? Der Wind verabschiedete sich ohne Umschweife vom Regen und machte sich auf den Weg zum Schnee.
Dieser – als naher Verwandter des Regens – war ähnlich begeistert vom Besuch seines Chefs und verkrampfte sich derart, dass er zu einer unförmigen Lawine zu werden drohte. Doch dem Wind war das egal. Er hatte nur einen Gedanken: Lilous Herz zu erobern. Also trug er auch in Gegenwart des Schnees die Tragödie der letzten Wochen bis ins letzte Detail vor. Doch auch der Schnee, verkrampft oder nicht, hatte wenig Hilfreiches zu diesem Problem beizutragen. Er setze sich lediglich manchmal auf die Nase oder die Wimpern einer von ihm bevorzugten Person und finde darin seine ganze Erfüllung, erklärte er dem Wind.
Der Wind schnaubte, stellte fest, dass er als höchster Gott wohl Besseres verdient hätte, und ließ den Schnee zurück, der sich nur mühsam in seine fluffige Gestalt zurückentspannte.
Im Geiste ging der Wind die anderen Wetterlagen durch.
Der Sonnenschein war ihm zu gut gelaunt, und er konnte unverbesserlichen Optimismus in seiner aktuellen Gemütsverfassung nicht ertragen.
Vom Hagel – wiederum eng verwandt mit Regen und Schnee – erwartete er ein ähnliches Verhalten wie bei den beiden Erstbesuchten, und verspürte selber eine diffuse Abneigung gegen ihn, da dieser nicht nur sprunghaft, sondern auch launisch war und durch seine kruden Meinungen einen zweifelhaften Ruf erlangt hatte.
Der Wolkenmacher schien ihm ein richtiger Ansprechpartner, da er sich durch Ruhe und Klugheit auszeichnete.
Doch auch hier sollte der Wind enttäuscht werden. Zwar hatte der Wolkenmacher Verständnis für dessen missliche Lage, doch sein Vorschlag für den Wind, sich auf seine Stärken zurückzubesinnen und den Fokus wieder mehr auf seine Aufgaben als höchster Gott der Wetterlagen zu richten, um den einen oder anderen Ausreißer – hier zog er bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, nannte aber keine Namen – wieder etwas mehr auf Spur zu bringen, stieß auf wenig Begeisterung und zerstäubte in einer traurigen Böe, die der Wind achtlos ausstieß.
Traurig, enttäuscht und verzweifelt strich der Wind durch die Welt. Waren es Tage? Wochen? Oder nur Stunden, die er mit gedankenlosem Brüten verbrachte, während er von Stadt zu Ort und von Ozeanen zu Kontinenten streifte.
Die Menschen begannen zu reden: Lange war kein Wind mehr in die Kornfelder gefahren, hatte die Segel der Boote gebläht oder die Windräder in Rotation versetzt. Wo war der Wind? War er verschwunden? Hatte er seinen Dienst quittiert und sich in ein anderes Reich der Existenz abgesetzt?
Die anderen Wetterlagen begannen zu zaudern: Was war zu tun? Sollten sie den Wind suchen? Ihn zurückholen, von wo auch immer er sich aufhielt? Oder wäre dies ihre Chance, sich einen größeren Namen zu machen, vielleicht sogar selber zur höchsten Gottheit aufzusteigen?
Den Wind erreichte all die Aufregung nicht. Er brütete über seinen Gefühlen, über dem Bild von Lilou, das immer wieder vor seinem geistigen Auge aufstieg und ihn mit Liebe, Verzweiflung und dann Wut erfüllte, nur um ihn erneut in tiefer Grübelei und Traurigkeit zurückzulassen.
Und dann fasste er einen Entschluss.
Er war der höchste Gott der Wetterlagen. Ihm hatten alle zu gehorchen. Er stellte die Spielregeln auf, nach denen sie spielen mussten, und er hatte die Macht, diese Regeln umzustoßen mit einer heftigen Böe, der sich niemand widersetzen konnte.
Er. Hatte. Die. Macht.
Mit gestrafften Schultern und einem überlegenen Lächeln trat er zurück auf die Bühne des Wetters und wehte. Wehte so sehr, als ginge es um sein Leben (was es letztendlich auch tat).
Seitdem bläst der Wind etwas kälter über den Erdball, etwas stärker und mit etwas mehr Gewalt.
Doch Lilou beachtet den Wind nicht …