Der wahre Raum

„Ich lade dich in den Raum ein.“

Die Umgebung war düster und irgendwie feucht, obwohl der Staub sich vor Marians Augen in einer mysteriösen Spirale zu drehen schien. Im Raum war es kühl, aber nicht unangenehm. Ein ruhiges, tiefes, weites Gefühl breitete sich in Marians Kopf aus und sie fühlte, wie sie sich entspannte und aller Stress und jedes Unwohlsein von ihr abfielen.

Gestern verschwamm, Morgen gab es nicht und auch der nächste Moment war nicht wichtig. Sie war hier. Er war hier. Ihr gegenüber, greifbar, freundlich. Er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit.

„Du bist unglaublich zickig und unhöflich. Ich sage nicht immer, aber leider sehr oft. Und dann diese Art … wie du Menschen deine Meinung aufzwingst – denn dass du ihnen deine Meinung lediglich sagst, kann man nicht gerade behaupten! Du giftest sie an, du nörgelst und manchmal bist du echt unter der Gürtellinie. Dein Ton ist unangebracht und fies. Du bist viel zu hart zu den anderen, dabei machst du selber auch Fehler – aber die gibst du nicht zu. Stattdessen schiebst du die Schuld anderen in die Schuhe, lügst dich durch Missverständnisse, und triumphierst, wenn jemand deine Show schluckt.

Du bist egoistisch, manchmal hinterhältig, unfreundlich, zickig und eine Lügnerin.

Aber ich tue das hier nicht, um dich fertig zu machen. Ich möchte einen Samen säen. Geh raus und pflege deine neue Pflanze. Lass Früchte gedeihen. Verschenke sie. Und fang endlich an, dich und andere zu lieben!“

Die Tür sprang mit einem beruhigenden Geräusch auf und sie verließen den Raum. Alles erschien Marian warm und gut, sie spürte ein Hochgefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Er führte sie durch den Gang, den sie gekommen waren, doch dieser hatte sich verändert. Alles schien sich verändert zu haben.

Sie traten auf die Straße hinaus.

Als Marians Smartphone klingelte, spürte sie eine seltsame Regung in ihrem Inneren. Sie sah auf dem Display, wer es war, und verdrehte genervt die Augen. In ihrem üblichen gereizten Ton meldete sie sich und wollte den Gesprächspartner kühl und schnippisch auf Distanz halten. Doch etwas Warmes schlich sich unmerklich in ihre Stimme und als er ihr noch einen schönen Tag wünschte, schluckte sie und wünschte dasselbe. Etwas Weiches rührte sich in ihr. Sie kam sich fremd vor, verletzlich – aber gut. Marian lächelte das erste Mal seit Wochen aus vollem Herzen.

Als sie sich umdrehte, war er verschwunden. Und sie hätte nicht sagen können, wer er überhaupt gewesen war.

„Ich lade dich in den Raum ein.“

Alles war schwer in diesem Gang. Die Decke hing tief über Pierres Kopf, die Wände schienen sich auf ihn zuzubewegen und die einsame Glühbirne kam mit jedem Schaukeln ein bedrohliches Stück näher. Pierre schlich voran. Der Mann in seinem Rücken war ihm nicht unangenehm, auch wenn Pierre sich fremd fühlte und sich nicht erinnern konnte, warum er überhaupt mitgegangen war. Der Raum war wärmer, weicher und größer. Pierre fühlte, wie sein Körper sich entspannte, wie er sich ausbreitete und tief die frische Luft einatmete.

„Du hast ständig Angst. Du bist eine Memme. Ständig beklagst du dich über irgendetwas, nichts ist dir genug und niemand kann es dir recht machen. Anstatt dein Leben in die Hand zu nehmen und endlich all deine Träume und Ideen anzupacken, jammerst du deine Umgebung voll mit Problemen, die nicht exklusiv dir vorbehalten sind. Jeder hat Stress, Sorgen, Ärger, muss seinen Job machen und Miete zahlen – damit bist du nicht allein!!!

Reiß dich endlich zusammen, streife diese selbst gewählte Isolation und Schwere ab – und werde endlich der Mensch, der du immer sein wolltest.

Du weißt genau, wie es geht – du bist nur zu bequem, um es auch endlich umzusetzen.

Ich tue das hier nicht, um dich runterzuputzen. Ich möchte eine Blume pflanzen. Geh raus und gieße deine neue Blüte, nähre sie so, dass weitere nachwachsen. Und dann verschenke sie. Fang endlich an, dein Leben mutig selbst in die Hand zu nehmen!“

Ein warmer Lichtstrahl glitt durch die halb geöffnete Tür. Pierre lief dem Mann hinterher und fühlte sich seltsam leicht und beschwingt. Die Glühbirne hüpfte lustig über ihren Köpfen, als ein Windhauch von der Straße in den Gang wehte.

Pierre sah den glänzenden Asphalt, die bunten Autos, die lachenden Menschen im Café. In seiner Tasche drückte das Notizbuch, dessen leere Seiten ihn unentwegt anzustarren schienen, sogar wenn es in seiner Tasche verborgen war. Er holte es heraus und betrachtete es. Jemand drückte ihm einen Stift in die Hand, doch als er sich umsah, erkannte er niemanden in der wuseligen Menschenmenge. Ein seltsamer Duft stieg um ihn herum auf, doch Pierre konnte nicht sagen, woher er kam. Alles, was er spürte, war ein warmer Hauch in seinem Gesicht wie ein leichter Kuss. Er ging in das gegenüberliegende Café und schlug das Notizbuch auf, obwohl sein Kopf sich sträubte. Dann setzte er den Stift an.

Der Mann steht an einer Bretterwand, die mit bunten Graffiti besprüht ist. Er sieht bekannt aus, obwohl du ihn nicht kennst. Du schaust in seine Richtung und kannst den Blick nicht abwenden. Statt weiter durch deinen Feed zu scrollen, in dem du ohnehin nicht findest, was du suchst, stellst du das Display deines Smartphones aus und gehst zu ihm hinüber.

Er sieht dich freundlich an.

„Ich lade dich in den Raum ein.“  

Du folgst ihm lächelnd.

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