Die Brücke

Marie erzählte es Tom, der per WhatsApp Philip informierte, der wiederum sofort bei Marie anrief, wahrscheinlich, weil sie sympathischer war als Tom.
„Was soll das heißen: Die Brücke ist weg?“, blaffte Philip dann doch unfreundlicher in das Smartphone als geplant, „Eine Brücke kann nicht einfach … weg sein.“
Marie zuckte mit den Schultern – was Philip natürlich nichts nützte, denn er konnte es nicht hören – und reichte ihr Telefon an Tom weiter, der so doch noch zu der Ehre kam, es Philip persönlich zu erklären.
„Wir kamen gerade beide gleichzeitig am Treffpunkt an, und die Brücke war nicht mehr da. Sie ist einfach … verschwunden. In Luft aufgelöst. Weg.“ Nun zuckte auch er mit den Schultern, was nicht im Geringsten zur Klärung oder zu Philips Verständnis beitrug.
„Okay. Die Brücke ist weg. Wir wissen nicht warum und wie zum Teufel eine gottverdammte, aus Stein gemauerte, riesengroße Brücke einfach verschwinden kann, aber sie ist weg. Und was fällt euch Schlaubergern jetzt dazu ein?“
Tom hatte sein Smartphone auf Lautsprecher gestellt, damit er nicht der Einzige war, der Philips Geschrei ertragen musste, und Marie starrte gebannt auf das Display, als würde die Lösung all ihrer Probleme dort erscheinen.
„Na ja“, sagte sie dann zögerlich, „wir können den Fluss nicht überqueren. Und so kommen wir nicht an den Stützpunkt. Und das ist …“
„… eine Katastrophe!“, schrie Philip ungebremst.
Marie lächelte still, wie sie es immer tat, wenn sie gestresst war, und Tom verdrehte die Augen, was er sich in Philips Gegenwart nie im Leben getraut hätte.
Einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen. Marie knabberte an ihrem Fingernagel. Tom kratzte sich am Kopf. Philip atmete geräuschvoll ein.
„Ihr versucht jetzt ein Boot zu finden, mit dem ihr übersetzen könnt. Ich lasse mir dieses Geschäft nicht entgehen, nur weil irgendein größenwahnsinniger Scherzkeks die Brücke über Nacht entfernt hat. Also los, und“, seine Stimme wurde sehr leise, „in 10 Minuten erstattet ihr Bericht, ist das klar!“
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Tom sah Marie an, wandte sich dann abrupt um und hielt nach einem Bootsverleih Ausschau.
„Ich sehe nix“, sagte er erleichtert und setzte sich auf einen Findling, der am Wegesrand lag.
„Das wird ihn nicht überzeugen, fürchte ich“, murmelte Marie, noch immer den Finger im Mund, und ließ ihren Blick schweifen. Hier war seit Hundert Jahren kein Boot gefahren, schätzte sie. Der Fluss war viel zu unruhig und gefährlich. Kein Mensch würde die Verantwortung für tollkühne Touristen übernehmen, die sich ein Boot mieten wollten, und so tollkühne Touristen mussten auch erst mal gefunden werden, bevor jemand hier einen Bootsverleih aufmachen würde. Sie ging ein paar Schritte das Ufer entlang und blickte lange über den Fluss auf die andere Seite. Tom beschäftigte sich mit seinem Smartphone.

Der „Stützpunkt“ des Dealers, mit dem Marie und Tom in ca. 15 Minuten einen Termin zur Übergabe hatten, war undeutlich zwischen den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer zu erkennen: Ein halbzerfallener Bunker mit einem gähnenden Loch, das wohl der Eingang war, lag schräg im hohen Gras. Ein paar Graffiti waren zu erkennen, doch ansonsten regte sich nichts dort drüben. Marie zog fröstelnd die Schultern zusammen. Er war noch nicht dort. Oder saß in dem kalten Steinbunker allein, wartend, lauernd, wie ein hungriges Tier, das …
„Lass uns abhauen“, ließ Tom sich vernehmen und verstaute das Telefon in seiner Jackentasche.
Marie zog die Augenbrauen zusammen und sah Tom zweifelnd an.
„Wie, abhauen? Philip macht uns die Hölle heiß!“
„Ich habe ihm geschrieben, dass wir kein Boot finden können und uns auf die Suche machen. Und das bedeutet: Wir müssen hier abhauen. Und uns woanders nach einem Boot umsehen.“ Er zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch und wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Marie schüttelte den Kopf.
„Das geht schief, Tom, du weißt es, ich weiß es. Damit kommen wir nie im Leben durch. Unser Plan ist …“
„Genial! Wir suchen uns ein Boot, hauen ab und damit heißt es ‚Bye-bye Tom, du Halsab…‘“
Es klickte an Toms Ohr und eine heisere Stimme raunte: „…schneider? Deinen Wunsch kann ich dir erfüllen.“
Marie schrie auf, als sie Loco-Luke erkannte. Der Dealer, der keineswegs im Bunker saß und auf sie wartete.

Hey, Mann, ganz ruhig“, stammelte Tom und hob beschwichtigend die Arme.
„Ich bin ganz ruhig“, erwiderte Luke mit einem feisten Grinsen. „Wohin soll es denn gehen?“
Marie ging in einem kleinen Halbkreis um Luke herum, sodass er sich mit Tom im Arm in ihre Richtung drehen musste.
„Wir wollten gerade ein Boot organisieren, um auf die andere Seite des Flusses zu kommen.“
Luke hob die Augenbrauen. „Seid ihr nicht schwindelfrei, oder was? Warum nehmt ihr nicht die Brücke?“
„Weil … die Brücke weg ist.“
„Wie, weg?“, Luke schüttelte den Kopf. „Willst du mich verarschen? Hat die jemand letzte Nacht geklaut, oder wie?“ Er lachte kurz und hart, dann verfinsterte seine Miene sich wieder. „Hör zu, Mädchen, ich lass mich nicht gerne auf den Arm nehmen. Was ist mit der Brücke?“
Marie zuckte mit den Schultern und trat zwei Schritte zurück.
„Die Brücke ist nicht mehr da.“
„Ja, Mann“, pflichtete Tom ihr bei, „die ist einfach weg, in Luft aufgelöst, nicht mehr da.“
„Jetzt hört mal zu, ihr beiden Komiker, eine uralte Steinbrücke kann nicht einfach so verschwinden. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle ganz langsam darüber und sehen uns das wunderschöne Bauwerk an. Und dann gebt ihr mir Philips Kohle und macht euch ganz schnell vom Acker oder es wird hier sehr ungemütlich werd…“
Marie stolperte, fing sich jedoch in der letzten Sekunde auf. Sie machte ein paar Schritte auf den Dealer und Tom zu. Im nächsten Moment ertönte ein schriller Ton aus dem Gebüsch hinter ihr.
„Was zum Teufel …“, murmelte Luke, da wurde er von Tom mit einem geschickten Handgriff in den Schwitzkasten genommen und Marie riss ihm die Pistole aus der Hand.
„Verdammte Sch…“
„Na, na, na, wir wollen doch höflich bleiben!“, tadelte Marie und stopfte dem Dealer ein Taschentuch in den Mund.
Tom fesselte ihm Hände und Füße und schubste ihn die Böschung hinunter.
„Und jetzt hauen wir ab“, zischte er und ergriff Maries Hand.

Am Hafen herrschte absolutes Chaos. Marie und Tom schlängelten sich durch die vielen Menschen, die entweder zum Reisen oder Reisenden-Zusehen gekommen waren. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie einen geöffneten Ticketschalter gefunden hatten. Der Mann darin sah sie müde über schlierige Brillengläser hinweg an.
„Sie wünschen?“, leierte er ohne Interesse zu heucheln.
„Wir brauchen zwei Tickets. Richtung Süden. Auf einem Schiff.“ Tom trat der Schweiß auf die Stirn, sodass Marie übernahm.
„Guten Tag, wir hätten gerne zwei Schifftickets in die Malediven. Erste Klasse, bitte.“
Sie strich mit einer Hand über ihren Mantel – und erstarrte. Dort, wo der Geldumschlag, den sie am Morgen von Philip erhalten hatte, hätte sein müssen, war nichts.
„Tom“, glaubte sie zu sagen, doch ihre Stimme erstarb.Jemand tippte ihr auf die Schulter.

„Suchst du das hier?“
Philip wedelte mit dem braunen Umschlag und grinste sie schief an.
„Kein schlechter Coup“, bemerkte er anerkennend und zog Marie mit einem eisernen Griff zur Seite. Tom blickte die beiden entsetzt an.
„Mir diesen Scheiß von der Brücke zu erzählen: gar nicht schlecht. Sich mit Loco anzulegen: ganz schön mutig. Aber beim Handgemenge den Umschlag mit eurem Geldsegen für die Fahrt in die Freiheit zu verlieren: Das war einer der beiden großen Fehler, die ihr gemacht habt, meine Süßen.“
Er schubste Marie in Richtung seines Autos. Tom folgte wie ein stummes Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Er wollte abhauen, weglaufen, viel Abstand zwischen sich selbst und Philip bringen – aber er konnte Marie nicht zurücklassen. Nicht so sehr, weil er sie aufrichtig liebte; eher aus Mitleid. Und aus Angst.
„Du tust ihr doch nichts, oder?“, stammelte er und sah Philip unterwürfig an.
„Aber i wo, mein lieber Tom! Ich bin doch kein Unmensch! Ich habe ein Herz für Verrückte mit kreativen Ideen.“
Er tätschelte Tom die Wange, öffnete die hintere Wagentür und bugsierte ihn hinein.  Marie nahm auf der Beifahrerseite Platz und starrte stumm zur Frontscheibe hinaus.
Philip klemmte sich hinter das Lenkrad und betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung.
„Und nun erzähl mir mal alles ganz von vorne. Aber so, dass ich es kapiere, klar?!“

Stotternd berichtete Tom. Davon dass Marie und er sich, na ja, ineinander verliebt hätten. Wie sie den Plan gefasst hatten, zusammen abzuhauen. Dass Marie diese verrückte Idee mit der Brücke gekommen und was seit dem Telefonat mit Philip passiert war. Marie saß bewegungslos da, und Tom konnte nur ihren Hinterkopf sehen. Er wünschte, sie würde etwas sagen. Seine Wünsche waren bisher selten erfüllt worden.

„So, so, so“, kommentierte Philip schmunzelnd. Dann wandte er sich an Marie.
„Kannst du die Story bestätigen, Mariechen?“
Sie nickte. Dann drehte sie sich lächelnd zu Tom um.
„Bis auf die Sache mit dem Verlieben. Das hat der Kleine sich wohl eingebildet.“
Tom erstarrte, als Philip und Marie in kaltes, zweistimmiges Gelächter ausbrachen …