Ich wollte die Meisterin der Geschichten treffen. Zwar sagte man mir, sie sei eine spröde, ja divenhafte Gesellin, und sie heraufzubeschwören ein gefährliches Unterfangen – doch ich wurde einem alten Ritual habhaft, mit dem sie sich rufen ließ, und so wagte ich es.
Es hatte mit Feuer zu tun und einer Substanz, deren Nutzung den Geist öffnet. Ganz legal war das nicht, doch die Meisterin der Geschichten zu beschwören war eben ein gewagtes Unternehmen, für das man gewisse Risiken eingehen musste.
Ich sitze also am Feuer und starre in die flackernde Glut. Die Hitze zieht wie kalte Schauer durch die Scheite und erzählt bereits ihre eigene Geschichte. Ich sorge mich darum, ob die Meisterin mir überhaupt erscheinen wird.
Je länger ich vor mich hinstarre, desto unwürdiger fühle ich mich. All die Stunden, in denen ich auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hatte, ohne auch nur einen Satz zu schreiben, werden zu Tagen vor meinem inneren Auge. All die verzweifelten Versuche, der Computertastatur einen anbetungswürdigen ersten Satz zu entlocken, kriechen eiskalt meinen Rücken hinauf. Von all den mittelmäßigen bis unsäglichen Texten, die ich mir oftmals in kürzester Zeit abgerungen hatte, ganz zu schweigen.
Als die Visionen meiner Unfähigkeit unerträglich zu werden scheinen, taucht sie auf.
Die Meisterin erscheint mir ein wenig fett, und ich bin froh, dass die Substanz nur meinen Geist öffnet, aber nicht meine Zunge löst. Wir starren uns eine Weile schweigend an. Sie sieht müde und angriffslustig aus und angesichts ihrer optischen Mittelmäßigkeit vergesse ich meinen Zettel mit vorbereiteten Fragen in meinem Schoß. Doch bevor ich die Sache als Irrtum abtun und verschwinden kann, beginnt die Meisterin zu sprechen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Meisterin der Geschichten eine exzellente Erzählerin sein müsste – doch die unglaubliche Langeweile, die in ihrer knarzigen Stimme mitschwingt, würde selbst den spannendsten Plot zu Staub zerreiben. Ich habe alle Mühe, mich wach zu halten, und bin ausgesprochen enttäuscht. Trotzdem hält mich eine Anspannung gefangen – immerhin sitze ich der Meisterin der Geschichten gegenüber!
„Warum hast du mich gerufen? Writer’s block?“
„Nein! Machen das andere Autoren etwa?“
„In meinem Alter, Schätzchen, hat man schon das ein oder andere erlebt.“
„Ah … Also, darum geht es nicht. Ich möchte … ich wüsste gerne, wo die Geschichten herkommen.“
Es folgt ein schnalzendes Schnappgeräusch, das zwischen laut und hysterisch schwankt und sich erst nach einer Weile als Gekicher ausmachen lässt. Die Meisterin der Geschichten lacht mich aus!
„Von mir kommen sie! Von mir allein! Und jetzt tu nicht so, als hättest du das nicht auch schon vorher gewusst.“
„Doch, schon, darum hab ich di… Sie … Eure Exzellenz? ja gerufen.“
„Na, den Zinnober hättest du dir sparen können.“
„Das finde ich nicht. Ich weiß ja auch, dass Goethe tot ist, aber trotzdem würde ich ihn gerne mal treffen. Der Vergleich klingt jetzt vielleicht ein bisschen blöde, ab…“
„Ich mache die Geschichten. Tausende und Abertausende von Geschichten. Aber keine ist mehr etwas wert. Sieh dich doch um: Jeder schreibt! Pornografie, Fantasy, Krimi-Kram und Romantik – die Welt ist voll davon. Zaungäste schreiben, Voyeure schreiben, die vermeintlich Coolen schreiben und die gelangweilten Spießer auch – und nichts davon ist auch nur einen Pfifferling wert.“
Zwar ist die Langeweile mit jedem Wort aus ihrer Stimme gewichen, doch jetzt starrt die Meisterin der Geschichten trübsinnig in mein Feuer und schweigt wieder. Ich starre trübsinnig in dieselbe Richtung und schweige auch.
Dann hebt sie wieder an:
„Alles ist ohnehin nur eine einzige Reproduktion. Und ich bin so müde. Kein Plot, der mich selbst noch vom Hocker reißt, keine gute Idee mehr … Woher soll ich all die Ideen für all die Schreiberlinge nehmen? Weißt du, wie voll die Bibliothek von Lucien ist? Alleine von den Büchern, die in den Köpfen der Menschen geschrieben wurden! Und wer hat sich dafür die Geschichten ausgedacht? Du musst nicht antworten, das war Rhetorik.“
Wer zum Teufel ist Lucien???
„Keine Mittelteile, kein Spannungsbogen, kein anbetungswürdiger erster Satz mehr, kein Durchhaltevermögen … Ein fader, alter Plot und ein ausgelutschter Stil – was soll daraus werden? Tausend angefangene Geschichten und nicht eine ist es wert, überhaupt zu Ende geschrieben zu werden.“
Höre ich da einen Seitenhieb? Der anbetungswürdige Satz … Habe ich darüber nicht erst vor Kurzem sinniert?
Die Meisterin der Geschichte hat sich in Rage geredet. Und jede gelangweilte Knarzigkeit in ihrer Stimme gehört endgültig der Vergangenheit an.
„Und die Lüge … die Lüge, dieses kleine, faule, hinterhältige Ding! Hat keine eigenen Ideen mehr und bedient sich einfach bei mir! Ständig klopft sie an meine Tür und bettelt: ‚Nur eine kleine Geschichte noch, braucht auch nichts Kompliziertes zu sein!‘ – ich bitte dich!!! Hast du je von einer unkomplizierten Lüge gehört? Also grübele und ersinne ich und werde immer müder … Aber so bin ich eben. Ich gebe. Das ist seit jeher meine Aufgabe.“
Die Meisterin der Geschichten wechselt ihre Position und zieht dabei hörbar zischend die Luft zwischen ihren Zähnen ein. Mein Mund steht auf und meine Augen vergessen zu blinzeln. Ich räuspere mich und klaube meine entgleisten Gesichtszüge wieder zusammen. Bevor ich etwas sagen kann, fährt die Meisterin der Geschichten fort:
„Ich habe den Menschen an ihren ersten Feuern Geschichten geschenkt, die sie dankbar an die folgenden Generationen weitergegeben haben. Ich habe Goethe Geschichten gegeben – und was für wundersame Dinge hat er mit ihnen angestellt! Dostojewski, Nabokov, Juli Zeh und dieser verrückte Amerikaner … Matt Ruff! Welch Genie, welch mutiger Eigensinn! Affen, die an Schreibmaschinen Lebensgeschichten tippen! Mein Amüsement und meine Begeisterung waren grenzenlos.
Doch dann fing es an: Ein Autor, dem ich eine meiner besten Geschichten geschenkt hatte, begann, einen anderen Plot, der ihn über Umwege erreichte, zu reproduzieren. Wieder und wieder – bis er schließlich wie am Fließband schrieb. Langweilig. Er fragte mich nicht mehr, er brauchte mich nicht mehr: Er nahm dieselbe Grundidee und wickelte ein paar belanglose Worte darum. Ich habe ihm eine Geschichte gegeben und er hat dies Geschenk missbraucht. Für Geld. Für Ruhm. Für … Macht. Und dabei war er nur der erste von vielen. Von viel zu vielen.“
Wieder verfällt die Meisterin der Geschichten in ihr trübsinniges Starren und die Pause ist so unerträglich lang, dass ich nervös beginne, an meinen Fingernägeln zu knabbern. Doch der Blick der Meisterin verbietet jeden Kommentar.
„Ich bin so unendlich müde. Manch einer deiner Zunft ruft mich an. Writer’s block nennen sie es. Sie fragen nach Geschichten. Aber sie stellen die falsche Frage. Es geht nicht um Geschichten. Es geht nicht um eine innovative Fiktion.“
An dieser Stelle blickt sie mir direkt in die Augen, und ich schäme mich, so als trüge ich die Schuld daran, dass die große Meisterin der Geschichten mir müde und ausgelaugt gegenübersitzt und ihr Dasein beweint.
„Aber wenn es nicht um Geschichten geht – worum geht es denn dann? Wie lautet denn die richtige Frage?“
„Die Frage nach dem Leben! Es geht immer um das Leben. Um die verwaisten Kinder im Wald, die auf billiges Süßwerk hereinfallen und doch schlauer sind als das Böse. Um den vom Liebeskummer zerfressenen Jüngling, der sich das Leben nimmt. Um Gnome, die unter deinem Bett lauern, und Dunkelheit, die mit kalten Händen nach dir greift! Um Drachen, Psychopathen, Liebende, Sterbende, Zwerge, Schätze, Götter, Teufel, Geheimnisse … Es geht um Magie!
Und was tut ihr? WAS – TUT – IHR! Zeig mir die Magie in euren Leben! In eurem Lächeln! In eurer Liebe, eurem Essen, euren Körpern, verdammt noch mal in eurem Sein! Und dann zeig mir die Magie in euren Geschichten! WO IST SIE?“
An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass die Meisterin der Geschichten mich jetzt am Kragen gepackt hat und mich so hoch hält, dass ich ihr direkt in die Augen sehen kann. Sie funkeln – röter als glühende Kohlen, heller als Kometen, überirdisch – und dann ist es vorbei. Wir sitzen uns wieder gegenüber, sie auf der einen, ich auf der anderen Seite des Feuers. Die Meisterin der Geschichten seufzt:
„Wenn ich könnte, würde ich den Job an den Nagel hängen. Das meine ich ernst.“
…
„Aber es gibt Verantwortlichkeiten, denen wir uns nicht entziehen können. Nicht einmal die Götter. Nicht einmal jene, die älter sind als alle Götter dieser Welt. Nicht einmal ich.
Ich habe dir nichts mitzugeben. Ich habe keine Heilmittel, und für gute Ratschläge musst du das Schicksal beschwören.“
Die Meisterin der Geschichten erhebt sich schwerfällig, müde und wendet sich zum Gehen. Bevor sie in der Dunkelheit verschwindet, dreht sie sich ein letztes Mal zu mir um. Ich sehe wieder das überirdische Funkeln in ihren Augen und wie sie eine Hand zum Gruß erhebt. Dann verschwimmt sie mit der Nacht, bis nichts mehr von ihr zu erkennen ist.
Das Feuer ist bis auf ein leichtes Glühen heruntergebrannt. Vor mir liegt ein Zettel mit Fragen, die ich nicht stellen konnte. In mir herrscht etwas, das mit Chaos nicht ansatzweise beschrieben werden kann. Langsam lässt die Wirkung der Droge nach und ich klappere mit den Zähnen. Ich werfe meinen Fragen-Zettel in die Glut und sehe zu, wie er aufflackert und dann zu Staub zerfällt. Die Worte der Meisterin der Geschichten klingen in meinem Kopf nach. Verantwortlichkeiten. Magie. „WO IST SIE?“
Als ich endlich aufstehe, um nach Hause zu gehen, sehe ich etwas auf dem Boden liegen. Es ist ein kleiner, verschnörkelter Schlüssel. Als ich ihn aufhebe, funkelt er für einen Moment wie …
Und ich verstehe.