Odins Lektion

Als ich Odin das letzte Mal traf, war er gerade dabei, mit Thors Hammer einen Zaunpfahl in den Boden zu rammen, um ein großes Loch in einer Umzäunung zu reparieren und seine Hände zu benutzen, weil das stets ein guter Ausgleich zu jeglicher Form des Denkens ist.
„Setz dich“, sagte er, als er mich sah, und wies mit dem Hammer auf einen abgesägten Baumstumpf, der nur unweit von ihm stand.
Ich setzte mich stumm.
„Die Raben haben mir von dem Brand erzählt“, rief Odin mir zu, wobei seine tiefe Stimme das Krachen des auf den Zaunpfahl aufprallenden Hammers mit Leichtigkeit übertönte.
Ich rutschte nervös auf dem Stamm hin und her.
„Dein Dachboden sei ausgebrannt, hieß es, und du wärest sehr wütend darüber.“ Er blickte mich an und ließ den Hammer sinken. „Du siehst aber überhaupt nicht wütend aus.“
Ich merkte, wie ich rot wurde, und senkte den Blick.
„Nun?“, fragte er, während Thors Hammer an seiner Hand baumelte wie ein Handtäschchen.
„Ja“, stammelte ich verlegen, „richtig, der Dachboden, aber ich … bin nicht so gut im Wütendsein“, flüsterte ich.
Odin fixierte mich für einen langen Moment. Doch als ich weiterhin verlegen schwieg, wandte er sich wieder den Zaunpfählen zu.

Ich war überhaupt nicht besonders gut im „Sein“; ich konnte an wenigen Fingern abzählen, wann ich glücklich gewesen war, an einer Hand, wann ich im Hier und Jetzt angekommen und an maximal zwei Händen, wann ich wütend geworden war – kein besonders guter Schnitt.
Odin machte nicht den Eindruck, als würde er auf ein weiteres Wort von mir warten. Stattdessen nahm er den nächsten Zaunpfahl und schlug ihn mit einigen wenigen Hieben in die Erde.
Ich sah meine Hände an; sie waren vom Brand verschont geblieben. Ebenso wie meine Füße und Beine. Doch mein Blick war stark verschwommen, denn mein Auge hatte zu viel Feuer gesehen.
Ich räusperte mich. Zwar schüchterte mich dieser weise Gott ein, doch der Grund meines Kommens war zu wichtig, um jetzt aufzugeben.
„Odin“, sagte ich leise. Das Krachen des Hammers war übermächtig, „Odin!“, brüllte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Odin sah zu mir herüber mit einem Blick, der tief in mich hineinzugehen schien.
„Ich … würdest du …“
Mir war noch nicht ganz klar, wie ich meine Frage vortragen sollte. Odin war weise und mächtig. Und ich nur ein kleines Erdenmenschlein, das nicht bereit war, Opfer zu bringen.
„Könnten wir eine Art … Deal machen?“ Ich sah ihn fragend und zugleich ängstlich an.
„Einen Deal“, sagte er vorsichtig und schlackerte mit dem Hammer, dass ich Angst bekam, dieser könne als Nächstes in meine Richtung geflogen kommen.
„Was für einen Deal möchtest du denn machen?“, fragte er dann und verzog keine Miene. Das Herz rutschte mir in die Hose, aber dennoch – was hatte ich zu verlieren?
„Du gibst mir mein rechtes Augenlicht zurück und nimmst dafür einen anderen Teil meines Körpers, den ich nicht dringend brauche“, sagte ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Odin betrachtete mich lange und aufmerksam aus seinem einzigen Auge. So lange, dass ich schon dachte, er würde mich bis in alle Ewigkeit ansehen wollen. Er mochte ja alle Ewigkeit Zeit haben – Götter haben da einen etwas anderen Standard –, aber ich hatte noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor ich körperlos in das Unbekannte eingehen würde.
Doch dann sprach er plötzlich mit ernster Stimme: „Und an welchen Körperteil hast du gedacht, blonde Besucherin?“
Ich schluckte, denn ich hatte keine Ahnung. Aber bei Göttern sollte man – neben einer gehörigen Portion Respekt – vor allem Ahnung haben, denn Wünsche können gefährlich werden, wenn sie nicht präzise genug formuliert sind. Immerhin das wusste ich.
Doch bevor ich sprechen konnte, fragte Odin nachdenklich: „Wie kommst du darauf, mir einen solch seltsamen Deal vorzuschlagen?“
Ich antwortete ohne zu zögern. „Ich habe nichts zu verlieren, Odin.“
„Nichts – zu – verlieren?!“
Odin starrte mich mit seinem aufgerissenen Auge an und ließ den Hammer fallen. Thors Waffe drehte sich ein paarmal um sich selbst, dann zielte sie für einen Moment gen Norden und flog wie ein silberner Pfeil davon. Doch Odin wandte den Blick nicht eine Sekunde lang von mir ab.
Ich saß mickrig und kleinlaut auf meinem Stamm und wartete. Ich befürchtete, Odin würde mich ohne Weiteres nach Hause schicken, womit mein Besuch bei ihm völlig umsonst gewesen wäre. Ich spürte, wie ich zu zittern begann. Doch überraschenderweise legte Odin mir seine große Hand auf die Schulter und sagte sanft:
„Ich beobachte euch seit Jahrhunderten, dich und dein irdisches Volk. Und ich höre das nicht zum ersten Mal. Ihr alle glaubt, ihr hättet nichts zu verlieren. Nichts zu verlieren.“ Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin.
Ich beneidete ihn wie so oft, wenn er in sich selbst versunken seine Worte im Kopf abwog. Im Gegensatz zu mir, die impulsiv und laut war und nicht mal in der Lage, ein Feuer auf ihrem Dachboden zu löschen, geschweige denn, es zu verhindern. Alles, was ich wusste, war wie ein Haufen alter Zeitungen mit meinem Dach verbrannt; als hätte ich all die Bücher, die ich je gelesen hatte, zu einem großen Scheiterhaufen zusammengetragen, auf dem ich meine Weisheit geopfert hatte – statt sie mit dem Verlust meines Augenlichtes zu vertiefen. Doch bevor ich vollständig in Selbstmitleid zerlief, sprach Odin plötzlich weiter:
„Du hast alles zu verlieren! Hörst du? Alles! Die Bäume, die Meere, die Wolken, der Wind – das alles ist dein. Es gehört dir und deinesgleichen ebenso, wie es mir gehört. Dein Volk kauft sich Metallkästen auf Rädern und erklärt sie zu Besitz. Es benutzt mit Zahlen bedruckte Papierschnipsel und hängt sein Leben daran. Ihr fürchtet, euer Eigentum zu verlieren, und würdet alles tun, um es zu behalten – ihr würdet euer Leben dafür riskieren. Doch in dem Moment, in dem das Leben wirklich an einem seidenen Faden hängt, in dem das, was ihr für selbstverständlich haltet, ins Schwanken gerät, glaubt ihr plötzlich, ihr hättet nichts mehr zu verlieren. Die Metallkästen nicht. Die Papierschnipsel nicht. Nicht das Dach und nicht die Sonne, die Bäume oder die Welt. So ein Unsinn!“
Er machte eine Pause und sah mich an. Ich nickte pflichtschuldig, obwohl ich nicht begreifen wollte, dass die Wolken mir gehörten. Und mein Auto konnte ich zurzeit ohnehin nicht fahren, weil die Sicht meines Auges sehr getrübt war.
„Hör mir zu, Menschlein: Das Gegenteil ist der Fall. Du hast alles zu verlieren. Verstehst du das?“
Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Verstehst du das, blonde Besucherin?“, fragte er nachdrücklich.
Meine Gedanken purzelten wild durcheinander in meinem Kopf, aber ich sagte unsicher: „Ja …?“
Odin seufzte. Ich spürte, dass er nicht vorhatte, mir noch irgendetwas zu erklären. Und dass ich hätte verstehen müssen, was er mir gesagt hatte. Aber meine Gedanken hatten kein Interesse daran, sich zu ordnen, und ich sank noch etwas mehr in mich zusammen.
„Ich nehme den kleinen Finger deiner rechten Hand“, sagte er schließlich leise und sah mir direkt ins Gesicht.
Ich zuckte zusammen. Meinen kleinen Finger? Aber … Ich brauchte meinen kleinen Finger! Wie sollte ich auf einer Tastatur tippen, meine Gitarrensaiten zupfen, einen Stift sicher halten … Wie sollte ich ohne meinen kleinen Finger leben? Hatte ich nicht gesagt, es solle ein Körperteil sein, das ich nicht brauchte???
Odin schwieg. Er stand vor mir und musterte mich mit einem unerfindlichen Blick aus seinem einzelnen Auge.
Ich schluckte. Dann sagte ich heiser: „Aber … ich brauche meinen kleinen …“
Odins Blick schnitt mir das Wort ab. Und ich kam nicht umhin, ihn erneut zu bewundern. Seine Entscheidung war gefallen und ich sollte nun meinerseits entscheiden, ob ich einwilligen oder lieber zurück zu meinem halb verbrannten Zuhause gehen wollte. Für jemanden wie mich, die über jede Entscheidung monatelange Nächte schlief, war das … mir kam eine Idee.
„Kann ich darüber nachdenken und wiederkommen?“, fragte ich vorsichtig.
Odin schüttelte nicht einmal den Kopf.

Wir schwiegen eine Weile. Sein wacher Blick ruhte auf mir und ich konnte immer noch nichts darin lesen. Mein gesundes Auge lag auf seinem klugen, ruhigen Gesicht und dem fehlenden Auge, das diesem mächtigen Gott so viel Weisheit gebracht hatte. Ich wusste, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Dass er sich auf einen Deal mit mir eingelassen hatte, war mehr, als ich hatte erwarten können. Mir wurde heiß und kalt. Ich betrachtete meinen kleinen Finger. Er war schmal und feingliedrig. Rosig. Ein wenig verschwommen hinter meinem verschleierten Auge. Mein Herz schlug in meiner Brust. Die Wolken waren mein, die Bäume und die Meere – „Du hast alles zu verlieren. Verstehst du?“Ich stand auf. Odin blickte mich an, und für einen Moment war mir, als würde etwas in seinem Auge aufblitzen. Dann war es vorbei.
Ich sah ihn direkt an.
„Danke“, sagte ich.
Und ging.

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