Erzählungen

„Ruhe im Saal, verdammt noch mal! Ich lasse Sie alle polizeilich entfernen und hinter Gitter bringen, wenn Sie nicht sofort aufhören mit diesem Radau!“
Der Richter schlug mit dem Hammer nicht mehr nur auf die Holzunterlage, sondern den gesamten Richtertisch entlang. Doch entgegen seinen Anweisungen nahm der Lärm im Gerichtssaal noch zu und schwoll zu einem bedrohlichen Tumult an.

Unkonventioneller Prozess

„Du bist wunderschön!“, flüsterte er und strich ihr sanft über das Haar.
Ihre Angst wurde kleiner und kleiner, bis sie einem Vogel glich, der flatternd am Horizont verschwand.

Reframing

Ein kleiner Apfel hing glücklich am Zweig eines Apfelbaumes. Er freute sich so sehr, dass es ihn gab, dass er das Licht der Sonne spürte und das Kitzeln der Regentropfen. Er freute sich über das Zwitschern der Vögel, die sich in seinem Apfelbaum ausruhten, und über die Menschen, die es sich auf der Wiese unter seinem Bauch bequem machten und die Stunden verstreichen ließen.

Jedes Mal, wenn die Sonne schien oder der Regen prasselte, reckte und streckte er sich besonders, denn er wollte gerne groß und rotbäckig werden.

Warum nie etwas schlecht ist

„Wie lange noch?“, rufen die Raben.
Ein bisschen wird’s wohl noch dauern.
„Du fällst doch eh gleich auf die Nase“, lachen sie.

Auf dem Feld

Marie erzählte es Tom, der per WhatsApp Philip informierte, der wiederum sofort bei Marie anrief, wahrscheinlich, weil sie sympathischer war als Tom.

„Was soll das heißen: Die Brücke ist weg?“, blaffte Philip dann doch unfreundlicher in das Smartphone als geplant, „Eine Brücke kann nicht einfach … weg sein.“

Die Brücke

Als ich Odin das letzte Mal traf, war gerade dabei, mit Thors Hammer einen Zaunpfahl in den Boden zu rammen, um ein großes Loch in einer Umzäunung zu reparieren und seine Hände zu benutzen, weil das stets ein guter Ausgleich zu jeglicher Form des Denkens ist.

Odins Lektion

Verglichen mit den anderen Kindern ihrer Klasse war Milly anders. Es war nichts, worauf man mit dem Finger zeigen oder für das man Worte hätte finden können – aber es war da. Es lag in ihrer Art, die anderen anzuschauen, ihrer Art, die Welt zu sehen und in ihrer Art, zu sprechen. Ja, vor allem daran.

Sonne jagen

Die Regentropfen am Fenster des Flugzeugs sehen beim Starten aus wie kleine Spermien, die auf dem schnellsten Weg zum Ziel sind.

Abflug

Ich wollte die Meisterin der Geschichten treffen. Zwar sagte man mir, sie sei eine spröde, ja divenhafte Gesellin, und sie heraufzubeschwören ein gefährliches Unterfangen – doch ich wurde einem alten Ritual habhaft, mit dem sie sich rufen ließ, und so wagte ich es.

Die Meisterin der Geschichten

Wir sitzen schon eine Weile zusammen, sie und ich.
Es gab bereits einige Sorten Tee, Rotwein, kleine und größere Räusche, beredtes Schweigen und knirschenden Streit. Einigen konnten wir uns auf einen Patt: Ich kann weitermachen, aber auf Sparflamme, halb gar, und nichts wird je wieder wie früher sein.

Verhärtet, Multiple

Das Leben hat mich zu einem Ausflug eingeladen, ich habe zugesagt, setze mir meinen Strohhut auf und warte, dass es mich abholt.

Ausflug mit dem Leben

Auf dem Feld hinter dem Haus sind mehrere Kinder versammelt. Allesamt in bunten Farben gekleidet und laut. Viel zu laut, wie der Nachbar findet, und die Mütter nicht zu sehen, weit und breit. Der Nachbar rechnet. Er ist ein Rechengenie, sagt er selbst, er rechnet den ganzen Tag.

Der Kopf des Drachen

Als wir am Morgen an der Schule ankamen, sahen wir sofort den Menschenauflauf, der unruhig und lärmend vor dem Gebäude herumwuselte. Doch unsere Hoffnung auf einen spontanen Schulausfall wurde augenblicklich zerschlagen: Die Türen zum Gebäude standen weit offen und der Direktor hielt eine Ansprache, die gerade begonnen hatte.

Die kuschlige Gefahr

Ich lade dich in den Raum ein.


Die Umgebung war düster und irgendwie feucht, obwohl der Staub sich vor Marians Augen in einer mysteriösen Spirale zu drehen schien. Im Raum war es kühl, aber nicht unangenehm. Ein ruhiges, tiefes, weites Gefühl breitete sich in Marians Kopf aus und sie fühlte, wie sie sich entspannte und aller Stress und jedes Unwohlsein von ihr abfielen.

Der wahre Raum

Unter den Wetterlagen ist der Wind der größte Gott.
Darum darf er immer wehen, egal, ob Sommer oder Winter, warm oder kalt. Viele der anderen Wetterlagen mögen ihn nicht – was sie natürlich niemals zugeben würden.

Der verliebte Wind

Der Jogger trug Hellblau. An seinem Handgelenkt hektisches Pulsuhr-Piepen, was an seinem rasenden Herzen und dem schnellen Atem lag, der stoßweise kam und ihn kaum sprechen ließ. Das Kritzeln des abgegriffenen Kugelschreibers in der Hand des Beamten expandierte dröhnend in den Wald hinein.

Der Geruch im Wald

Ich liege im Bett und denke über das Geld nach, das ich nicht habe. Dabei sehe ich an die Decke. Das Schlafzimmer ist das einzige Zimmer, das noch Raufasertapete hat. Sie sieht wirklich rau aus und an einer Stelle ist sie zerrissen. Wie eine klaffende Wunde, aus der die rohe Wand hervorsieht.

Geldgeschichten

„Wir sind eingeschneit“, sagst du.

Ich treffe dich im Morgengrauen in der Küche, in der du Konserven sortierst und Vorräte durchsiehst. Durch das Fenster strahlt weißer Schnee in den dunklen Raum, den wir seit ein paar Tagen bewohnen.

Eingeschneit

Wir treffen uns spät abends in einer kleinen Spelunke, die ich nicht kannte, bevor er mir die Adresse genannt hatte. Ich finde den Ort und die Zeit äußerst klischeehaft, habe mich aber nicht getraut, das zur Sprache zu bringen. Vielleicht ist es auch eine gute Entscheidung – wenn man diesen Grad der „Popularität“ erreicht hat.

Interview mit dem Teufel

Mein Wecker zeigte 6:58, als ich aufstand. Mutter sah mich heute, aber sie erkannte mich nicht. Erst als ich mehrfach meinen Namen wiederholt und ihn mit den Magnetbuchstaben an ihre Tafel gelegt hatte, nickte sie leicht.

Mutter

Wie geht Leben im Angesicht des Todes?
Wie lebt es sich in seinem Wartezimmer?

Wir sitzen und blättern in Zeitschriften. Das Wartezimmer erscheint wie ein riesiger Planet mit Meeren und Städten und Tieren und Menschen, es wird zu Blumen auf unseren Wegen und zu den Sternen, die wir lieben oder um die wir weinen.

Im Wartezimmer des Todes